Leben
oder töten lassen? Tatsachen statt Meinungen
Lic.rer.publ.HSG Dominik Müggler-Schwager*
In der gegenwärtigen Diskussion über die Einführung der «Fristenlösung» stehen sich von Grund auf gegensätzliche politische Meinungen gegenüber. Unabhängig von der Positionierung in diesem Meinungsstreit ist der Blick auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Tatsachen notwendig.
Die
medizinische Situation der Frau
Aus
medizinischen Gründen gibt es keine Notwendigkeit, Abtreibungen durchzuführen.[i]
Eine Ausnahme bilden die Fälle akuter Lebensgefahr für die Mutter (sog. «lebensrettende
Sofortmassnahmen»). Den übrigen Fällen liegen psychosoziale, materielle oder
individualistische Motive zugrunde.
«Ein
Mensch wird nicht Mensch, sondern ist Mensch und verhält sich schon von Anfang
an als ein solcher. Und zwar in jeder Phase seiner Entwicklung von der
Befruchtung an.»[ii]
Der neue Mensch, der bei der Abtreibung getötet wird, ist ein Kind, kein
blosser Zellklumpen. Zur Verdeutlichung: Die Eizelle lebt 6-12 Stunden, das
Spermium 2-4 Tage, die vereinten Keimzellen haben augenblicklich eine neue
Lebenserwartung von 70-80 Jahren und setzen den Anfang des Lebens eines neuen
Menschen.
Die
rechtliche Situation der Frau
Die
Frau im Schwangerschaftskonflikt steht oft unter erheblichem Druck des
menschlichen Umfeldes. In der Abtreibung vollzieht sie die Tat nicht selbst.[iii]
Nur die psychischen und physischen Folgen der Tat trägt sie fast immer allein.
Täter
ist der Abtreiber, d.h. in der Regel der Arzt. Die Abtreibung steht im
Widerspruch zur ärztlichen Berufsethik (Eid des Hippokrates bzw. Genfer Ärztegelöbnis,
d.h. die Verpflichtung, den Menschen von der Empfängnis an bedingungslos zu
achten).
Oft
werden Frauen durch ihr Umfeld (Partner, Familie etc.) zur Abtreibung
angestiftet. Auch die Anstiftung ist grundsätzlich strafbar.
Die
rechtliche Situation des Kindes
Eine
Rechtsgüterabwägung zwischen den Interessen der Frau und jenen des Kindes führt
konsequenterweise dazu, dass Abtreibungen nur im Fall akuter Lebensgefahr für
die Mutter zulässig sein können. Beim Kind geht es nicht bloss um «Interessen»,
sondern um Alles oder Nichts, d.h. um das nackte Überleben.
Gemäss
Bundesverfassung, Artikel 10, hätte jeder Mensch ein Recht auf Leben. In der
Vernehmlassung zur neuen Bundesverfassung hielt der Bundesrat 1996
interessanterweise fest: «Im Rahmen der Nachführung [Totalrevision der
Bundesverfassung] kann die Frage nach dem (juristischen) Beginn des Lebens
offengelassen werden»![iv]
Jeder Lösungsvorschlag, der diese Frage nun zu Ungunsten des menschlichen
Lebens beantwortet, widerspricht der heute gültigen Bundesverfassung.
Die
materielle Situation der Frau
Eine
unerwünschte Schwangerschaft versetzt eine Frau nicht selten in eine materielle
Notlage. Das schweizerische Sozialnetz fängt diese Not jedoch nur ungenügend
auf: Eventuelle Fürsorgeleistungen müssen bis auf den letzten Franken wieder
zurückbezahlt werden. Das ist eine schwere Hypothek, welche den
Schwangerschaftskonflikt im Alltag zusätzlich belastet.
Die
Folgen der Strafloserklärung von Abtreibungen
Viele
Menschen halten alles für erlaubt, was nicht verboten ist. Professor Eugen
Huber, der Schöpfer des Zivilgesetzbuches (ZGB), fasste bereits 1921 diese
Tatsache in einem rechtsphilosophischen Traktat folgendermassen zusammen: «Das
grosse Heer der Unentschiedenen folgt der Parole, die vom Rechte ausgegeben
wird; das Recht wird für sie zum Sittengesetz».[v]
Die
Abschaffung der Strafbarkeit von Abtreibungen führt dementsprechend nicht zu
weniger, sondern zu mehr Abtreibungen. Diese Erkenntnis wird regelmässig durch
die Statistiken aus jenen Ländern unterstützt, die diesen Weg gegangen sind.[vi]
Wer glaubwürdig weniger Abtreibungen haben will, muss folglich einer konsequent
restriktiven Regelung mit flankierenden Hilfsmassnahmen zustimmen.
Die
Abtreibung nach Vergewaltigung
Ein
Schlüsselfaktor in der öffentlichen Diskussion stellt die Frage der Abtreibung
nach Vergewaltigung dar.
Laut
Bundesamt für Statistik wurden 1999 in der Schweiz insgesamt 447
Vergewaltigungen angezeigt. Zusätzlich ist mit einer Dunkelziffer von nicht
angezeigten Vergewaltigungen zu rechnen. Weder Schwangerschaften noch
Abtreibungen aufgrund von Vergewaltigungen werden in der Schweiz statistisch
erfasst. Britische und amerikanische Studien[vii],
welche sich insgesamt auf mehr als 155'000 Fälle abstützen, ergaben, dass auf
100 Vergewaltigungen im Durchschnitt 0,08 (1:1238) Schwangerschaften entstehen.
Daraus lässt sich errechnen, dass es in der Schweiz im Durchschnitt pro Jahr zu
ein bis zwei Schwangerschaften aufgrund von Vergewaltigungen kommt.
Das bestehende Gesetz (Art. 120 StGB) enthält keine Regelung, wonach Vergewaltigung eine Indikation für eine straflose Abtreibung wäre. Seit Beginn der 80er Jahre wird dieser Fall als sog. «medizinische Indikation» ausgelegt. In den 58 Jahren der Geltung des bestehenden Gesetzes (1942-2000) ist es nie zu einer Anklageerhebung gekommen.
Die
«Fristenlösung» braucht den Fall der Abtreibung nach Vergewaltigung nicht zu
regeln, denn sie lässt die Abtreibung innerhalb einer bestimmten Frist sogar
ohne Angabe von Gründen zu.
Die
«Volksinitiative für Mutter und Kind» behandelt Abtreibung nach
Vergewaltigung genau gleich wie das heute gültige Gesetz. Die Auslegung der
medizinischen Indikation soll allerdings nicht mehr im
selben
Mass
möglich
sein
wie
bisher.
Statt
dessen sieht diese Initiative ein frühzeitiges Einleiten des
Adoptionsverfahrens vor.
Entgegen
einer verbreiteten Meinung ist zu beachten, dass
a)
der gezeugte Mensch nicht ohne Verstoss gegen seine elementarsten
Grundrechte getötet werden kann.
b)
die Abtreibung keinen therapeutischen Wert aufweist, sondern im Gegenteil
in hohem Masse als sogenannte Kontraindikation zu betrachten ist. Die
psychischen Probleme und Traumas aus der Vergewaltigung werden durch die
Abtreibung zusätzlich verstärkt[viii].
c)
von den wenigen Fällen pro Jahr, in welchen Vergewaltigungen eine
Schwangerschaft zur Folge haben,
sich gemäss ausländischen Studien mehr als die Hälfte der Frauen (70%)
für das Kind entscheiden.
Die
Chancen der «Fristenlösung»
Die
Chancen der «Fristenlösung» hängen sowohl von der Ausgestaltung der
Gesetzesvorlage wie auch von den Pro- und Kontra-Argumenten in der Öffentlichkeit
ab. Die «Fristenlösung» muss, um Erfolg zu haben, sich gegen die Kritik
durchsetzen, dass sie
a)
gegen die neue Bundesverfassung verstösst, weil sie das Recht auf Leben (Art.
10 BV) verletzt.
b)
die Erkenntnis missachtet, wonach der neue Mensch, der im Mutterleib getötet
wird, nicht ein Zellklumpen, sondern ein Kind ist.
c)
ungeborene Menschen aufgrund ihres Alters oder ihrer Behinderung diskriminiert.
d)
eine gefährliche Selektion zwischen «lebenswert» und «lebensunwert» fördert.
e)
der Mutter in Not keine materielle Hilfe gewährt, bzw. keine flankierenden
Hilfsmassnahmen vorsieht.
f)
den Frauen keinerlei Rechtsschutz vor Druckversuchen des menschlichen Umfeldes
gewährt.
g)
den Ärztinnen, Ärzten und Hebammen die gespaltene Berufsethik aufzwingt.
h)
juristisch willkürlich ist und die Frau zur Richterin in eigener Sache macht.
i)
Ärzte und Pillenverkäufer (RU 486) mit der Tötung durch Abtreibung ein Geschäft
machen lässt.
j)
den Krankenkassen – und somit den Prämienzahlern – jährlich direkte und
indirekte Kosten von 100 Mio. Franken aufbürdet und damit ein teures System unnötig
belastet.
k)
den Bevölkerungsrückgang in der Schweiz fördert.
l)
das Kind zum medizinischen Rohstofflieferanten degradiert (z.B. Transplantation
fötalen Gewebes).
Die
Chancen der «Volksinitiative für Mutter und Kind»
Die
«Volksinitiative für Mutter und Kind» wurde lanciert, um einen den
Menschenrechten und den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte
gerecht werdenden Gegenvorschlag zur «Fristenlösung» einzubringen. Diese
Initiative wird Erfolg haben, wenn es ihr gelingt, der Allgemeinheit klar zu
machen, dass
a)
die Wissenschaft den Menschen von der Empfängnis an anerkannt hat und
dieser dementsprechend geschützt werden muss.
b)
die Zahl der Abtreibungen nur mit einem restriktiven Gesetz gesenkt
werden kann.
c)
die Mutter in Not die erforderliche Hilfe braucht und verdient.
d)
der medizinische Stand der Technik keine Notwendigkeit mehr sieht,
Abtreibungen
durchzuführen.
e)
die Initiative für Mutter und Kind exakt dem bestehenden Gesetz
entspricht und zusätzlich der Mutter in Not die erforderliche Hilfe zukommen lässt.
f)
eine gerechte Lösung den Arzt und nicht die Frau ins Zentrum der
Strafbarkeit rückt.
Im
Falle einer Gegenüberstellung von «Volksinitiative für Mutter und Kind» und
«Fristenlösung» wird das Schweizervolk die Wahl haben zwischen einer «Kultur
des Lebens» und einer «Kultur der Tötung». Eine solche Gegenüberstellung
an der Urne hat
*Der
Autor ist Generalsekretär der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK),
Postfach, 4011 Basel
Tel.
061/703 77 77, Fax. 061/703 77 78, Internet: www.mamma.ch, e-mail: info@mamma.ch
Hotline
für Mütter in Not: 0800 811 100
Spendenkonto: PC 80-183-3
[i] Prof. Dr. med. E. Hochuli, Zürich, Ansprache an Chefärzte: «Wenn wir ehrlich sind, müssen
wir doch zugeben, dass es eine medizinische Indikation für die Abtreibung
gar nicht gibt.»
[ii] Prof. Dr. med. Erich Blechschmidt, in: Wie beginnt menschliches Leben,
Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1976, S. 30
[iii]
Ausnahme: bei der Einnahme der Abtreibungspille Mifegyne (RU486)
[iv]
Vernehmlassung zur neuen Bundesverfassung, S. 147
[v]
Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung – Probleme der Gesetzgebung
und Rechtsphilosophie, Basel, 1921, S. 63
[vi]
Anzahl Abtreibungen in Ländern vor und nach Einführung der «Fristenlösung»:
USA 1970: 228'700 / 1996: 1'505‘800; Holland 1985: 17‘251 / 1999:
25‘318; Kanada 1987: 70‘023 / 1997: 114'848; Länder mit Einführung von
Restriktionen: Polen: 1990: 59‘417 / 1999: 151, gleichzeitig überproportionale
Abnahme an Fehlgeburten und Todesfällen bei Schwangerschaften. Diese
medizinischen Indikatoren weisen nach, dass trotz Restriktionen die
illegalen Abtreibungen offenbar nicht zugenommen haben.
[vii]
Gemäss sechs grossen Studien über insgesamt 155'000 untersuchte
Vergewaltigungen in den USA und in Grossbritannien, in: Brian Clowes, The
Facts of Life, Front Royal, Virginia, 1997, S. 105ff. Die Autoren der
Studien erklären sich die niedrige Rate von Schwangerschaften u.a. damit,
dass zahlreiche Frauen durch operativen Eingriff dauerhaft oder durch
Medikamente vorübergehend steril sind, dass der Zyklus der Frau eine
Schwangerschaft nicht jederzeit zulässt und dass bei Vergewaltigung
beiderseits eine Reihe von sexuellen Funktionsstörungen wirksam sind,
welche die Wahrscheinlichkeit des Entstehens von Schwangerschaften beeinträchtigen.
[viii] David C. Reardon, Julie
Makimaa und Amy Sobie; Victims and Victors: Speaking Out About Their
Pregnancies, Abortions, and Children Resulting from Sexual Assault; Acorn
Books, Springfield/IL 2000
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