Sterbehilfe, Individuum und freie Gesellschaft

Der Artikel von Prof. Karl-Ludwig Kunz «Sterbehilfe - Verhinderung eines Systemwechsels» (NZZ 4. 12. 01) veranlasst mich zu einer Reaktion. Die Analyse zur bevorstehenden parlamentarischen Auseinandersetzung über die Sterbehilfe in der Schweiz geht von einem engen - meines Erachtens zu engen - Menschenbild aus: vom durchwegs rational handelnden Individuum, das auch unter schwierigsten Umständen zu einer vernünftigen Betrachtungsweise fähig ist. Für Prof. Kunz handelt das Individuum auch in einer solchen Extremsituation vollständig autonom. Sein Entscheid ist frei von jeder Beeinflussung aussenstehender Personen und Tatsachen. Der Autor geht sogar so weit, der parlamentarischen Initiative Cavalli vorzuwerfen, unzulässige Hürden beim Wunsch nach einem Freitod zu fordern, die letztlich ebenso «paternalistisch» seien. «Wo Sterbende (. . .) nicht mehr fähig sind, selbst den letzten Schritt zu vollziehen, wird zur Erfüllung des Sterbewunsches die direkte aktive Sterbehilfe objektiv erforderlich.»

Was juristisch eine durchaus stringente Argumentation sein mag, verkennt die Realität des Menschen. Gerade in schwierigen Situationen ist es nicht die berechnende Vernunft, die abgeklärt einen Entscheid fällt, dessen Erfüllung zu respektieren ist. Die Erfahrung stimmt mit den Resultaten der Forschung überein: Menschliche Beziehungen, physische und psychische Unterstützung, soziale und ökonomische Abhängigkeiten und Bedürfnisse und geistige Begleitung werden gerade in Extremsituationen immer wichtiger und verhindern letztlich den von Prof. Kunz vorausgesetzten autonomen Entscheid. Wenn es sich bei einem Todeswunsch um einen Hilferuf handelt - und in den meisten Fällen ist das so (vgl. NZZ 18. 9. 01) -, dann ist die Erfüllung eben gerade nicht «objektiv erforderlich». Im Gegenteil: In diesem Fall sind Ärzte und Pflegepersonal, Verwandte und Bekannte dazu verpflichtet, diesem Hilferuf Taten folgen zu lassen. Wer den Hilferuf eines Menschen mit Barbituraten abstellt, verkennt die eigentliche Lebenssituation und das Umfeld eines betroffenen Menschen.

Der Arzt am Krankenbett hat eine über die blosse juristische Analyse und den einfachen Vollzug der Wünsche des Patienten hinausgehende Aufgabe. Wenn das Ins-Zentrum-Stellen des leidenden Menschen und seines Bedürfnisses nach physischer, psychischer, geistiger und sozialer Betreuung mit Paternalismus gleichgesetzt wird, dann ist dieser Paternalismus bei der umfassenden Sterbebegleitung am richtigen Ort. Es ist die Palliativ-Medizin, die diese ganzheitliche Lebensbegleitung bis zum Tod zu leisten imstande ist. Die Palliativmedizin ist der Schlüssel eines neuen Verständnisses des Sterbens, des begleiteten Abschiednehmens von der Welt. Der rationale Todeswunsch mag schneller und kostengünstiger sein; dass die Erfüllung dieses Wunsches dem Menschen als einem Ganzen besser entspricht, muss nach dem derzeitigen Stand der Forschung bezweifelt werden.

Dr. med. Guido A. Zäch Nationalrat CVP (AG)

Der Artikel von Prof. Kunz beginnt mit den Worten: «In einer freien Gesellschaft ist Sittlichkeit kein Staatsinhalt. Deshalb ist der Einzelne der Gesellschaft nicht verpflichtet zu leben . . .» Was aber bedeutet «freie Gesellschaft»? Entweder bezieht sich «frei» (grammatikalisch richtig) auf die Gesellschaft und meint, dass eine «freie Gesellschaft» autonom sei betreffend Rechtsprechung, Schule, Steuerverwaltung usw. Oder aber «frei» bezieht sich auf die einzelnen Glieder dieser Gesellschaft und meint dann, in «freien Gesellschaften» genössen die Individuen mehr Freiheit als in «unfreien». Man erinnert sich dabei sogleich an die Binsenwahrheit, dass des einen Freiheit des andern Unfreiheit ist. Bis vor etwa zehn Jahren war Ehebruch strafbar; mittlerweile wurde zur Kenntnis genommen, dass die Sitten geändert haben, und das Gesetz wurde angepasst. Richtiger wäre also die Feststellung: Gesellschaften formieren dadurch Staaten, dass sie die ihnen je eigene Sittlichkeit normieren. Demgemäss wäre es naiv zu glauben, unsere sittlichen Normen (sprich: Gesetze) würden auch in jedem anderen Staat von der Gesellschaft als mehr Freiheit empfunden. «Freiheit» ist nicht von Zahl und Art der Vorschriften abhängig, sondern lediglich davon, wie gut die Gesetze mit dem Willen der Mehrheit übereinstimmen. Es ist darum durchaus logisch zu sagen, dass eine gesetzlich uniformierte Gesellschaft, wenn sie Gesetze hat, die mit dem Willen der Mehrheit übereinstimmen, freier ist als eine pluralistische Gesellschaft, wo hinsichtlich vieler Gesetze völlige Uneinigkeit besteht.

Der zweite oben zitierte Satz besagt, weil Sittlichkeit kein Staatsinhalt sei, bestehe keine rechtliche Verpflichtung des Einzelnen zu leben. Diese Begründung lässt vermuten, dass sich auch der Autor bewusst ist, dass es tatsächlich eine sittliche Verpflichtung gibt, sich nicht selbst zu töten. Diese sittliche Verpflichtung braucht nicht einmal religiöse Argumente, um einsichtig gemacht zu werden, und eigentlich würde sie verlangen, Beihilfe zum Selbstmord wieder strafbar zu machen (umso mehr, als das Gesetz aus der politisch recht dunklen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammt). Ein Suizid schadet immer auch der Gesellschaft, sowohl psychisch als auch ideologisch, menschlich und meistens auch materiell. Mit der Legalisierung der Euthanasie würde ein Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens relativiert.

Dr. med. W. Niederer (Biel)                                 Rechtsanwalt E. Niederer (Biel)

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Briefe an die NZZ, 11. Dezember 2001, Nr.288, Seite 64

 

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