Thurgauer Zeitung                       vom 11. Dezember 2001

 

«Mitleid allein begründet keine Ethik»

Soll die aktive Sterbehilfe vom Staat legalisiert werden? Auf diese Frage, welche heute im Nationalrat zur Debatte steht, antwortet die Thurgauer SVP-Kantonsrätin Marlies Näf-Hofmann, Mitglied der vom Bund eingesetzten Arbeitsgruppe «Sterbehilfe», mit einem entschiedenen Nein.

Mit Marlies Näf-Hofmann sprach Thomas Münzel

Für den Tessiner Arzt und SP-Fraktionschef Franco Cavalli - dessen Vorstoss heute im Nationalrat behandelt wird - kann die «Tötung auf Verlangen» ein Akt der Barmherzigkeit sein. Denn der Onkologe sieht, dass auch die palliative Medizin ihre Grenzen hat. Weshalb sehen Sie dies anders?

Nationalrat Franco Cavalli will nicht zur Kenntnis nehmen, dass es eine echte und ethisch gebotene Alternative zur aktiven Sterbehilfe gibt. Diese besteht in einer fachgerechten umfassenden palliativen (insbesondere schmerzlindernden) Behandlung, Pflege und Begleitung von schwerstkranken und sterbenden Menschen. Es steht fest, dass es nur in ganz seltenen Fällen mit den Mitteln der modernen Palliativmedizin nicht gelingt, die Schmerzen Schwerstkranker vollständig zu beseitigen oder erträglicher zu machen.
Nationalrat Cavalli übersieht sodann, dass bei Palliativbetreuung der Todeswunsch in fast allen Fällen gar nicht erst geäussert wird oder aufgefangen werden kann. Angesichts der gefährlichen Auswirkungen, den Missbrauchsmöglichkeiten und Dammbrüchen bei den ethischen Werten, die eine gesetzliche Regelung der Strafbefreiung «unter gewissen Bedingungen» bei der aktiven Sterbehilfe im Gefolge hat, erscheint eine solche Bestimmung ethisch nicht vertretbar. Zu befürchten ist vor allem eine Ausweitung auf Fälle aktiver Sterbehilfe, die durch das Gesetz nicht mehr gedeckt sind (zum Beispiel auf psychisch Kranke) und auf Patienten, die ihrer Tötung nicht ausdrücklich zustimmen.
Wenn Nationalrat Cavalli die Zulassung der aktiven Sterbehilfe als Akt der Barmherzigkeit gegenüber einem schwer leidenden Menschen bezeichnet, halte ich ihm den Satz des bekannten Ethikers Hans Jonas entgegen: «Mitleid allein begründet keine Ethik».

Ist ein Arzt, der aktive Sterbehilfe betreibt, ein Mörder?

Im juristischen Sinne nein. Art. 114 StGB regelt die Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe) als privilegierten Tatbestand gegenüber der vorsätzlichen Tötung, wobei die Privilegierung darin besteht, dass die Tötung auf Verlangen aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, erfolgt.

Gibt es neben dem Recht auf Leben nicht auch ein Recht auf Sterben, das Recht auf einen selbstbestimmten Tod?

Es ist unbestritten, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen, sich für den eigenen Tod zu entscheiden, höchster Stellenwert zukommt. Zu beachten ist aber, dass dieses Selbstbestimmungsrecht freie Willensbildung, also Urteilsfähigkeit, verlangt. Diese Voraussetzung dürfte aber bei kurz vor dem Tode stehenden Personen, die unerträgliche und nicht behebbare Schmerzen leiden, in den wenigsten Fällen noch vorhanden sein.

Welche Art von Sterbebegleitung beziehungsweise Sterbehilfe ist für Sie ethisch noch vertretbar?

Ethisch vertretbar sind für mich die passive und die indirekte (aktive) Sterbehilfe. Zwischen ihnen und der direkten aktiven Sterbehilfe besteht ein Unterschied von eminenter moralischer Bedeutung. Die direkte aktive Sterbehilfe  stellt einen gewaltsamen Tötungsakt dar, das heisst eine beabsichtigte Lebensverkürzung durch Tötung eines anderen Menschen.
Die passive Sterbehilfe hingegen ist der Verzicht auf oder der Abbruch von lebensverlängernden Massnahmen, wodurch der Arzt den Tod geschehen lässt, sodass der Patient im weiteren Verlauf an den Folgen seiner unheilbaren Krankheit stirbt.
Passive Sterbehilfe ist ein Sterbenlassen, ein schicksalshaftes Zuendegehen des Lebens und damit ein Tod in Würde. Auch die indirekte (aktive) Sterbehilfe ist ethisch vertretbar. Der Arzt beabsichtigt die Schmerzlinderung, nimmt aber gleichzeitig einen möglichen früheren Todeseintritt in Kauf. Seine Absicht ist - im Gegensatz zur direkten aktiven Sterbehilfe - nicht die Tötung.

Was sagen Sie einem Menschen, der unheilbar krank ist, der trotz Medikamenten unter unerträglichen Schmerzen leidet und den Wunsch äussert, sterben zu wollen?

Ich werde zunächst versuchen herauszufinden, welche Signale vom Todeswunsch dieses Menschen ausgehen. Je nach Ergebnis - meistens handelt es sich um einen Hilferuf aus Angst vor dem Verlassenwerden und dem Verlust mitmenschlicher Beziehungen - werde ich Fachkräfte beiziehen und hoffen, dass der Todeswunsch, wie es meistens der Fall ist, aus einer vorübergehenden Stimmung heraus erfolgte und abgelöst werden kann durch einen Zustand, der eine bewusste Annahme des Todesschicksals möglich macht.

<< >>