Erstveröffentlichung
des nachfolgenden Artikels von Professor René Spiegel,
in der BaZ, Basler Zeitung am 30. Juli 2001(mit freundl. Genehmigung)
„Die Alten kosten zu
viel“
(Anmerkung
der SGFL Internet-Redaktion: Wirklich?? – Antwort siehe unten! –
Hervorhebungen durch – wie z.B. bei ‚Schamröte ins Gesicht treiben’ -
durch SGLF Ineternet-Red., aber keinerlei Änderungen des Wortlauts. Weiterer
Hinweis: Vergleichen Sie die beachtenswerten Ausführungen von Prof. Spiegel
mit den bestürzenden Aussagen in anderem Artikelvon Attali wurde folgende
Aussage berichtet wie z.B. jene des ehemaligen franz. Präsidenten-Beraters
Jacques Attali: „alles was nichts mehr bringt.... link: www.schweiz-lebenshilfe.ch/dusollst/du_sollst_nicht.htm
Im Rahmen des Wissenschafts-Festivals „Science et Cité“ nahm ich
anfangs Mai an einer sog. Diskutier-Bar in Liestal teil. Unter der Leitung von
Ueli Heiniger diskutierten eine Ethnologin, eine Politikerin, ein Geriater, ein
Psychologe und ein Gesundheitsökonom zum Thema „150 Jahre alt werden: ein (Alb)traum?“.
Der Geriater sprach von biologischen und medizinischen Aspekten der Alterung und
von den Möglichkeiten der Lebensverlängerung; der Psychologe (ich) erzählte,
dass mehrere von ihm befragte ältere Personen die Möglichkeit einer Verlängerung
ihres Lebens auf 150 Jahre vehement abgelehnt hatten; die Ethnologin beschrieb,
wie man in gewissen afrikanischen Kulturen mit den alten Angehörigen umgeht;
die Politikerin (eine Graue Pantherin) äusserte sich kritisch über die soziale
und wirtschaftliche Stellung der Senioren in unserem Land, und der Gesundheitsökonom
wies darauf hin, dass eine weitere Verlängerung des Lebens zu noch grösseren
Finanzierungs-Schwierigkeiten der AHV und des Gesundheitswesens führen müsse.
Recht bald schaltete sich das Publikum in die Diskussion ein, und es
wurden Fragen nach der Stellung der Alten in unserer leistungsorientierten
Gesellschaft, nach dem Umgang der jüngeren Generation mit den Alten, nach
unserer Einstellung gegenüber dem eigenen Altern und dem Tod gestellt. Viele
Fragen und Stellungnahmen waren sehr persönlicher Natur, die Leute sprachen von
ihren eigenen Erfahrungen, Hoffnungen und Aengsten. Immer wieder kam man auf die
Kosten zu sprechen, die alte Menschen – ob gesund oder krank – verursachen:
für AHV, Krankenversicherung, Pflegewesen. Der oft gehörten Aussage, alte
Menschen seien ja doch unproduktiv und kosteten (zu) viel, wurde
entgegengehalten, gerade den heutigen Alten hätten die Jungen den Wohlstand
in unserem Land zu verdanken; es sei deshalb nicht angebracht und wenig
moralisch, den politisch und persönlich oft wehrlosen Senioren den
Anspruch auf Gesundheits- und Sozialleistungen absprechen zu wollen.
Beeindruckt waren wohl viele, als ein älterer Herr aufstand und sagte,
er sei jetzt 86 Jahre alt, körperlich und geistig rüstig, materiell
sichergestellt – er frage sich aber oft, ob er überhaupt noch
existenzberechtigt sei. Ständig müssten er und seine Altersgenossen hören,
die Alten seien eigentlich unnütz, sie konsumierten nur noch, ohne etwas
zu produzieren; da stelle sich doch mancher die Frage nach seiner
Existenzberechtigung - und was die Fachleute dazu meinten? Wir „Fachleute“
auf dem Podium waren perplex: Wie antwortet man einem alten Menschen, der an
seiner Existenzberechtigung zweifelt? Wem steht es zu, ein Urteil über die
Existenzberechtigung eines anderen Menschen abzugeben? Da die Frage –
wenigstens oberflächlich gesehen – als Teil der Diskussion über Gesundheits-
und andere Kosten gestellt worden war, versuchte ich eine Antwort zu geben, die
ebenfalls ökonomische Gesichtspunkte ins Zentrum stellte:
1. Es trifft zu, dass ältere Menschen bedeutend mehr Gesundheitskosten
verursachen als jüngere und dass ein Teil der sog. Kostenexplosion im
Gesundheitswesen durch die zunehmende Zahl von Menschen verursacht wird, die 80,
90 und mehr Jahre alt werden. Man darf aber nicht vergessen, dass das Geld, das
auf der einen Seite für Pflege etc. ausgegeben wird, nicht einfach verloren
geht, sondern auf der anderen Seite eingenommen wird: in Form von Löhnen und
Salären von Schwestern, Pflegern, Aerzten und weiterem Personal im Gesundheits-
und Sozialwesen; als Einnahmen von Apotheken, Zwischenhändlern und Pharmafirmen
für Medikamente; in Form von Investitionen in Apparate, Hilfsmittel und Bauten.
Das im Gesundheitswesen ausgegebene Geld wird also nicht vernichtet, sondern
bleibt im Wirtschaftskreislauf produktiv.
2. Wenn man davon spricht, dass alte, wirtschaftlich unproduktive
Menschen viel Geld kosten, dann sollte man doch auch einmal in Betracht ziehen,
was junge und wirtschaftlich ebenso unproduktive Menschen kosten, z.B. für
Schule, Berufsausbildung oder Studium. Ein Beispiel: Vor kurzem hat die
Universität Basel ihren Jahresbericht 2000 veröffentlicht: Der Gesamtaufwand
belief sich letztes Jahr auf 317.7 Millionen Franken, die Zahl der Studierenden
aller Fakultäten betrug 7606, ein durchschnittlicher Student kostete im Jahr
2000 also Fr. 41‘800.-. Legt man eine mittlere Studiendauer von 6
Jahren zugrunde, dann kostet ein ausgebildeter Akademiker die Gesellschaft
durchschnittlich rund Fr. 250‘000.-, die vorangehende Schulzeit,
Gesundheits- und Lebenskosten etc. in dieser „unproduktiven Lebensphase“
nicht eingerechnet. Nebenbei: Juristen, Oekonomen und Geisteswissenschafter sind
viel billiger als der genannte Durchschnittswert, Naturwissenschafter und
Mediziner viel teurer.
Dies mögen ungewohnte und vielleicht unsinnige Ueberlegungen und
Berechnungen sein – sie zeigen aber, dass eine rein ökonomische
Betrachtung von sozialen Fragen rasch zu absurden Konsequenzen führt.
Bei unseren Jungen sind wir ohne Einschränkung bereit, als Eltern und als
Gesellschaft eine massive wirtschaftliche Vorleistung zu erbringen, da wir
annehmen, diese werde sich eines Tages – im Sinne einer langfristigen
Investition – auszahlen. Bei den Alten aber, die vor 30 oder 40 Jahren für
unsere Generation ebenso grosse Vorleistungen erbracht haben, neigen manche
zu einem kalten Kosten-Nutzen-Denken, das ihnen eigentlich die Schamröte
ins Gesicht treiben müsste!
Solche Gedanken waren und sind zwar keine ausreichende Antwort auf die Frage des alten Herrn in Liestal nach seiner Existenzberechtigung, sie könnten aber zu einer etwas faireren Betrachtung der von Alten „verursachten“ Kosten beitragen.
Nochmaliger Hinweis der SGLF Internet-Redaktion:
führen Sie sich (nochmals) zu Gemüte was der ehemalige persönliche Berater
von Präsident Mitterand (auch Präsident der Europ. Bank für Aufbau und Entwicklung) sagte
– im 4. Abschnitt des folgenden Artikels -:
http://www.schweiz-lebenshilfe.ch/dusollst/du_sollst_nicht.htm
was
eine Wiederholung analoger Aussagen in der 30er Jahren des letzten
Jahrhunderts darstellt – mit all ihren schrecklichen Folgen hernach: war
jene Zeit nur ein Vorläufer zur heutigen, allwo man alles nur noch nach
materiellen Gesichtspunkten zu beurteilen scheint?
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