In
den Niederlanden ist die Euthanasie außer Kontrolle geraten
Der kritische Bericht eines holländischen Arztes -Dr. med. K.F. Gunning M.D., Rotterdam- wurde veröffentlicht in der Fachzeitschrift für Mediziner “der Internist” (Ausgabe: Juni 2000) und hernach im Wortlaut in “die Tagespost” (Ausgabe: 15. Juli 2000) übernommen
Wir
publizieren diesen Artikel nach Rücksprache mit der Chefredaktion und in deren
vollem Einverständnis.
Der
holländische Arzt zeigt auf, dass “Töten kein Verbrechen mehr sein soll”,
dass “neue Massstäbe wer leben darf und wer nicht…” gesetzt respektive
eingeführt werden sollen. Ferner dass “die (unfreiwillige!) Euthanasie in
Holland ausser Kontrolle geraten sei”. 1995 wurden in Holland bereits jährlich
26’600 Personen (!) willentlich dem Tode zugeführt, und pro Jahr wird diese
Totalzahl um weitere 1’000 Fälle erhöht. Der Patient, der nicht euthanasiert
(ins Jenseits befördert) werden will, ist seines Lebens im wahrsten Sinne des
Wortes nicht mehr sicher. Tod auf Bestellung wird ohne Strafe und Folgen
durchgeführt, als ob es völlig normal sei, einen Patienten zu töten! Der
Verfasser (holländischer Arzt aus Rotterdam) hofft, dass alle Nationen die
Legalisierung der Euthanasie verweigern
werden…
Zur
besseren Lesbarkeit haben wir einige Titel fett eingeschoben.
Jedermann
hat das Recht auf Leben
Die
allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 ist ein wirklich bemerkenswertes
Dokument. Es war das erste Mal, dass die Nationen der Welt sich darüber einig
wurden: "Jedermann hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der
Person" (Artikel 13). Die Präambel dieser Erklärung fordert die
Menschheit heraus: Wenn wir eine freie, gerechte und friedliche Welt wollen, müssen
wir anerkennen, dass alle Mitglieder der menschlichen Familie die gleiche inhärente
Würde und gleiche unveräußerliche Rechte haben. Was ist heute - gut fünfzig
Jahre später - mit dieser edlen Erklärung geschehen, diesem Ausdruck
weltweiter Übereinstimmung zur Verteidigung menschlicher Rechte, deren
wichtigstes das Recht auf Leben ist? Heute haben viele UN-Mitgliederstaaten die
Abtreibung legalisiert, die vorsätzliche Vernichtung des Kindes in der Gebärmutter,
das verletzbarste Mitglied der menschlichen Familie. Und jetzt stehen mehrere
Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen
kurz vor der Legalisierung der Euthanasie. In Holland hat man die Euthanasie
schon vor längerer Zeit praktisch legalisiert.
Töten
kein Verbrechen mehr…?
Derzeit
wird eine gesetzliche Änderung vorbereitet, nach der die Euthanasie kein
Verbrechen mehr sein wird. Der Arzt soll dann überhaupt nicht mehr strafbar
sein, wenn er die vorgenommene Euthanasie meldet und einige Regeln einhält.
Sogar Kinder ab zwölf Jahren können dann - auf eigenen Wunsch - gegen den
Willen ihrer Eltern getötet werden. So entsteht ein "Recht auf
Euthanasie".
“neue
Masstäbe wer leben darf und wer nicht…”!
Wie
konnte es so weit kommen? In der Septembernummer von "California Medicine"
des Jahres 1970, dem offiziellen Organ der California Medical Association, stand
ein Leitartikel "Eine neue Ethik für Medizin und Gesellschaft". Kurz
zusammengefasst besagt er: Die medizinische
Ethik könne nicht mehr auf der Ehrfurcht vor dem Leben gründen, denn es
drohe eine Überbevölkerung und wir
könnten uns nicht länger mit jeglichem Niveau der Lebensqualität zufrieden
geben. Wir bräuchten Maßstäbe um zu
entscheiden, wer leben darf und wer nicht(…). Das sei ein noch zu
grauenhaftes Programm, um akzeptabel zu sein. Aber man
hätte daher mit der Abtreibung begonnen und wenn diese akzeptiert sei,
setze man das Programm fort mit der
freiwilligen Euthanasie und wenn nötig,
der unfreiwilligen Sterbehilfe. Am Ende stehe neben
der "Geburtenkontrolle" (birth control) auch die
"Todeskontrolle" (death control).
Dabei sei es nötig, die Ärzte rechtzeitig auf diese neuen Aufgaben
vorzubereiten.
Der
Schritt von der erstenTötung zum Töten als Methode
Soweit
der Artikel der "California Medicine". Damals wollte fast keiner
das Programm ernst nehmen, aber in
Holland sind wir inzwischen fast schon so weit. Und auch in Amerika beginnt
die Position des New England Journal of Medicine, sich in diesem Sinne zu
wandeln (Groenewoud et al. 1997). Vor kurzem hat ein amerikanischer Psychiater,
eine weltbekannte Autorität in Fragen des Selbstmordes, Dr. Herbert Hendin, ein
Buch über Euthanasie und Selbstmordhilfe in Holland publiziert (H. Hendin, MD,
Seduced by Death, Norton & Co, New York, 1997). Er hat führende Mediziner
und Juristen, welche die holländische Praxis der Euthanasie geistig
vorbereiteten, interviewt. Sie gestanden
ihm im privaten Gespräch ein, dass die unfreiwillige
Euthanasie in Holland außer Kontrolle sei, in der Öffentlichkeit
aber behaupten sie weiter, dass es damit keine ernsten Probleme gäbe.
Selbstverständlich
müssen wir den leidenden Patienten helfen. Aber
wir sollten helfen, das Leiden zu
beenden, nicht das Leben. Wenn wir
heute das Töten eines Patienten als die Lösung für einen einzigen Fall
akzeptieren, dann werden wir morgen Hunderte von Fällen finden, wo wir das Töten
als eine akzeptable Lösung betrachten müssen. Wir müssen uns klar machen,
dass es ein großer Schritt ist, vom
niemals töten zum erstmaligen Töten zu gelangen.
In
Holland wird heute die bestehende Tötungsabsicht ‘normales medizinisches
Handeln’ benannt (…)!
Wenn
aber ein Arzt einmal getötet hat, ist es nur noch ein kleiner Schritt zum
zweiten oder dritten Mal. Rufen wir uns die Entwicklung in Holland ins Gedächtnis:
Im Jahre 1971 legte der Königliche Holländische Ärzteverein (KNMG)
Richtlinien für die Abtreibung fest und entfernte dadurch den Eckstein der
medizinischen Ethik, die unbedingte Ehrfurcht vor dem Leben. Obwohl die KNMG
ausdrücklich erklärte, niemals die Euthanasie zu tolerieren, war das der
Anfang des Abrutschens der Standards ("slippery slopes") in Holland.
Schon im Jahre 1973 veröffentlichte eines der Oberlandesgerichte einige
Voraussetzungen, unter denen ein Arzt bei der Euthanasie nicht angeklagt werden
konnte. Im Jahre 1981 gab die KNMG Richtlinien für die freiwillige Euthanasie
heraus. Im Jahre 1991 erstellte ein Regierungsausschuss unter dem Vorsitz von
Staatsanwalt Professor Remmelink den so genannten Remmelink-Bericht, der
zeigte, dass im Jahre 1990 in Holland
- bei einer Gesamtmortalität von 130 000 - Ärzte in fast 20 000 Fällen (15 Prozent der Totalmortalität) eine
Entscheidung mit der expliziten oder impliziten Absicht, das Leben
des Patienten zu beenden, getroffen
hatten. Bei diesen 20’000 Fällen wurde nur
in knapp 11 000 auf die Bitte des Patienten hin gehandelt (für
weitergehende Angaben über das zahlenmäßige Ausmaß von aktiver Euthanasie
ohne Einwilligung siehe Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 3, 21. Januar 2000, Bö-83).
Die
Schwierigkeit dabei ist, dass die holländische Regierung den Verzicht auf eine
(weitere) Behandlung und eine Intensivierung der Schmerzbekämpfung trotz
bestehender ärztlicher Tötungsabsicht "normales medizinisches
Handeln" nennt. Von Euthanasie spricht sie nur
dann, wenn ein tödliches Mittel auf
die ausdrückliche Bitte des Kranken hin verabreicht wurde.
Nach
dieser Begriffsbestimmung gab es nur 2’300 Fälle von Euthanasie. Diese Zahl
wurde der Welt verkündet, nicht jedoch
die fast 20’000 Fälle von absichtlichem
Töten eines Kranken ohne Rücksicht auf dessen Wünsche.
Jedes
Jahr 1’000 Tötungen mehr als davor…
Fünf
Jahre nach dem Remmelink-Bericht wurde 1996
ein zweiter Bericht über Euthanasie in Holland für das Jahr 1995 veröffentlicht.
Innerhalb dieser fünf Jahre war die Anzahl von Fällen, in denen die Ärzte die
Entscheidung getroffen hatten, den Tod des Patienten zu beschleunigen, von
fast 20 000 auf fast 26 600 pro Jahr angestiegen (von mehr als fünfzehn
Prozent auf fast zwanzig Prozent der Totalmortalität, das heißt eine
Zunahme von 25 Prozent). Von diesen fast 26 600 Fällen geschah die Tötung
in fast 13 300 Fällen auf die Bitte des Patienten hin (Anmerkung der Red.: die
anderen 50%, also nochmals 13’300 Personen hatten nicht um Tötung ersucht).
Die Zahl der Fälle, die von der holländischen Regierung Euthanasie genannt
werden, stieg von über 2 300 auf über 3 200, was eine Zunahme von dreißig
Prozent bedeutet.
Nicht
nur diese hohen Zahlen zeigen, was mit dem Abrutschen der Standards gemeint ist.
Hinzu kommt, dass auch die Kategorien von Patienten, die straflos getötet
werden können, ausgeweitet worden ist. Zuerst geschah es nur auf die ausdrückliche
Bitte des Patienten hin, jetzt werden auch komatöse Patienten und behinderte
Neugeborene getötet. Zuerst geschah es nur, wenn der Patient in der letzten
Phase einer unheilbaren Krankheit war. Jetzt wurde vor kurzem ein Psychiater
freigesprochen, der einer Frau, die verzweifelt, aber nicht krank war, beim
Suizid geholfen hat. Ein Patient mit der Alzheimer-Krankheit wurde in eine
Pflegeanstalt aufgenommen. Eine Woche später traf die Familie ihn fast im Koma
an, die Folge einer Dehydration. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo ihm drei
Liter Flüssigkeit intravenös verabreicht wurden. Schnell war er wieder
hergestellt (siehe NRC-Handelsblad, 25. Juli 1997).
Seines
Lebens nicht mehr sicher…
Das
neue Gesetz in Holland macht es möglich, dass ein Arzt straflos das Leben eines
Patienten beenden kann, vorausgesetzt er befolgt einige Richtlinien. Der Arzt
muss einen Kollegen konsultieren, aber nicht notwendigerweise einen Facharzt
oder Palliativmediziner. Er muss einen Fragebogen ausfüllen und dem
Staatsanwalt einen Bericht abgeben und so weiter. Aber es ist der Arzt selbst,
der den Bericht macht, auf dessen Basis seine Tat beurteilt wird, und der
Staatsanwalt tritt in Aktion (oder auch nicht), je nachdem, wie der vom Arzt
abgefasste Bericht ausfällt. Auch nach holländischem Recht kann von niemandem
erwartet werden, dass er sich selbst anklagt. Und der Hauptzeuge, der Patient,
ist natürlich tot. Der Arzt kann also schreiben, was er will. Kurz gesagt: Das
neue Gesetz schützt den Arzt, nicht den Patienten. Der Patient, der nicht
euthanasiert werden will, ist seines Lebens nicht mehr sicher.
Getötet
wider Willen: “Wir brauchen jetzt das Bett…”
Noch
schlimmer: Die Todesmentalität wird in
Holland allmählich zur Norm in der
medizinischen Praxis. Ein Internist, der eine Frau mit Lungenkrebs wegen
Sauerstoffmangels in die Klinik aufnehmen wollte, musste ihr versichern, dass er sie nicht
euthanasieren würde, was sie befürchtete. Er wies sie selbst ein und nach
36 Stunden war ihre Atmung normal, ihr Gesamtzustand besser. Als der Arzt nach
Hause ging, euthanasierte sie aber sein
Kollege. Seine Rechtfertigung: "Wir brauchen das Bett für einen anderen Fall; für die Frau ist es
egal, ob sie jetzt stirbt oder in vierzehn Tagen".
Tod
auf Bestellung:
Vor
dem Urlaub schnell noch die Beerdigung auf Bestellung
In
der Tat gibt es Ärzte, die sagen, wenn sie von den englischen Erfolgen mit der
Palliativmedizin hören, dass sie das nicht bräuchten, weil sie ja die
Euthanasie hätten. Als ich einem Kollegen erzählte, es wäre im Jahre 1995 in
zwanzig Prozent aller Todesfälle Euthanasie angewendet worden, war seine
Antwort: Es sollten hundert Prozent
werden. Es gibt inzwischen Verwandte von Patienten in Holland, die von den
Ärzten erwarten, dass sie die Euthanasie zu ihrer Annehmlichkeit anwenden. So
wurde zum Beispiel der Tod eines alten Mannes jeden Tag erwartet. Der Sohn
sagte dem Arzt, er habe Ferien geplant und könne nicht mehr absagen. Er
wolle, dass die Beerdigung noch vor seiner Abreise stattfinden solle. Der Arzt
verabreichte daraufhin dem alten Mann eine seines Erachtens sehr hohe Dosis
Morphium, in der Absicht, ihn zu töten.
Als er zurückkam, um den Tod festzustellen, saß
der Mann aber fröhlich auf der Bettkante. Er hatte endlich genug Morphium
bekommen, das seine Schmerzen stillte. Der "behandelnde" (Arzt-)
Kollege erzählte mir diese Geschichte, als
ob es völlig normal sei, einen Patienten zu töten, um der Familie einen
Gefallen zu tun.
Was
tun? Es ist unstreitig, dass die Freigabe der Euthanasie gegen die
Menschenrechte verstößt und schwerwiegende
Folgen haben wird. Allmählich werden wir uns daran gewöhnen, dass man
Patienten, die nicht (mehr) bestimmten Kriterien genügen, mit oder
ohne ihren Wunsch einer "lebensbeendenden Behandlung" unterziehen
wird. Der Schutz, der heute noch
gesetzlich gegeben ist, wird immer mehr
beseitigt. Der euthanasierende Arzt muss nur einen Kollegen finden,
der seine Ansichten teilt und er muss
den Fragebogen richtig beantworten.
Bedeutet
dies nicht, dass wir statt einer Demokratie in einer "Iatrokratie"
(einer von Ärzten beherrschten Gesellschaft) leben werden? Wer wollte es der jüngeren
Generation eigentlich verübeln, die
"unzumutbaren" Alten zu euthanasieren, sind die Jungen doch selbst
nur die Überlebenden eines vorgeburtlichen Selektionsprozesses, haben also
"gelernt"!
Palliativmedizin
anstatt Euthanasie!
Die
erste Aufgabe des Staates und seiner Regierung ist es, das Leben der Bürger zu
schützen (contract social). Das europäische Abkommen bezüglich der
Menschenrechte sagt im zweiten Paragraphen: "Das Recht eines Jeden auf
Leben wird vom Gesetz geschützt." In Europa streben wir nach einer
Uniformierung der Gesetze. Holland hat mehrere Gesetze ändern müssen, weil sie
gegen die europäische Rechtspflege verstießen. Vielleicht sollte man eine
europäische Konferenz über die Menschenrechte veranstalten und in Europa eine
Gesetzgebung, die den Bürger um seinen gerichtlichen Schutz bringt, als ungehörige
Politik verbieten. Aber zugleich sollten wir Ärzte uns unserer Verantwortung
dafür bewusst sein, diese eben beschriebene Leiden effektiv zu bekämpfen. In
England hat das House of Commons bei der zweiten Behandlung einen Gesetzentwurf
angenommen, der den Behandlungsverzicht mit Tötungsabsicht verbietet. Und
gerade in England haben Ärzte wie Dame Cicelay Saunders (London) und Prof.
Twycross (Oxford) seit Jahrzehnten die Palliativmedizin entwickelt, die nicht
nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Probleme eines Todkranken zu
lindern oder gar zu beseitigen sucht. Wir brauchen in jedem Land genügend viele
kompetente Palliativmediziner und Krankenpfleger sowie Hospize, wo eine
palliative Versorgung gewährleistet werden kann, wenn dies zu Hause nicht möglich
ist.
Könnte
die WHO nicht eine Eingreiftruppe von Fachärzten der Palliativmediziin
zusammenstellen, die jedem Land, das schnell dieses Spezialgebiet der Medizin
entwickeln will, helfen kann? Warum sollten wir die palliative Pflege nicht
jedem Patienten auf dieser Welt zugänglich machen, der sie braucht?
Legalisierung
der Euthanasie verweigern - ganz im Sinne: “Du sollst nicht töten”
Die
Demokratie ist eine empfindliche Pflanze, die ständige Überwachung und Pflege
braucht. Wir haben gesehen, was geschehen kann, wenn wir die Ehrfurcht vor
unseren Mitmenschen verlieren. Ich als holländischer Arzt hoffe, dass ganz
Europa und alle Nationen die Legalisierung der Euthanasie verweigern werden. Nur
so, wenn überhaupt noch, kann verhindert werden, dass die außer Kontrolle
geratene
Hinweis:
Der
Autor ist Arzt und lebt in Rotterdam. Sein hier veröffentlichter Bericht
erschien auch in der Fachzeitschrift "Der Internist", Juni 2000 (einer
Fachzeitschrift für Mediziner) sowie in “die Tagespost” am 15. Juli 2000,
mit deren Einverständnis wir diesen Artikel weiteren Kreisen zugänglich
machen.